Selten waren Aachener Leichtathleten derart erfolgreich. Das in den Medien häufig erwähnte "Aachener Duo" Jannis Wolff und Nico Beckers machte sich bereits im Laufe des Donnerstag Nachmittag auf in Richtung Bayern. Womöglich legte bereits die frühe Anreise und die damit verbundene freitägliche Ruhe und Besinnung auf den einzigen bedeutenden Wettkampf der Saison 2020 den Grundstein für den großen Erfolg der beiden Aachener Sportler.
Nachdem Freitag, der 21.08.2020 und damit erste Tag dieser Meisterschaft im bayerischen Vaterstetten für die Jugendlichen der Klasse U18/U20 mit hochsommerlichen Temperaturen und besten Wettkampfbedingungen aufwartete, zeigte sich der Himmel am Samstag wolkenverhangen. Für den 100m-Lauf zu Beginn der Konkurrenz blieb es aber trocken. Die Läufe fanden mit einem schönen "Schiebewind" statt, der im erlaubten Bereich von bis zu 2m/sek. blieb. Bereits diese Disziplin entwickelte sich zum Krimi ohne Happyend für den stärksten Zehnkämpfer des Wettbewerbes Mathias "Matze" Brugger. Nach zwei Fehlstarts wurde er im dritten Anlauf aufgrund einer kleinen Normabweichung bei der Reaktionsgeschwindigkeit disqualifiziert. Im vierten Startversuch gelangen unseren beiden Athleten hervorragende Starts und in der Folge auch hervorragende Läufe, die mit einer Bestzeit von 10,77 sek. (Jannis) und 10,87 sek (Nico) fulminant endeten. Damit war für unsere beiden Mehrkampfwaffen der Wettkampf großartig gestartet. Jannis übernahm die Führung in der Gesamtwertung und für diesen ersten Tag wurde die Führung von den beiden ATG-Jungs nicht mehr hergegeben.
Nico hatte sich beim Einlaufen vertreten und bemerkte nun nach dem 100-m-Lauf starke Schmerzen im Rücken-/Hüftbereich. Die eingeleiteten physiotherapeutischen Maßnahmen der Spezialisten vor Ort konnten ihm leider im Verlauf des Wettkampfes, in dem sich seine Schmerzen ständig verschlimmerten, nicht helfen. Hier sei bereits zu Anfang erwähnt, dass sein Kampf um die Medaille anders hätte aussehen können, sein Durchhaltevermögen an diesem Wochenende ist nicht hoch genug einzuschätzen.
Beim folgenden Weitsprung öffnete der Himmel seine Schleusen und erschwerte den Weitsprung für alle Athleten. Sowohl Jannis als auch Nico absolvierten einen ersten gültigen Sicherheitssprung. Während sich Nico danach noch steigern konnte auf 6,97m (ohne allerdings das Brett zu erreichen), trat Jannis zweimal über auf die Plastilinmasse und konnte die gesprungenen 6,85m nicht mehr steigern. Lange Gesichter angesichts der hohen eigenen Erwartungen, aber im Vergleich zur Konkurrenz akzeptable Leistungen. Nun ging Nico in Führung in der Gesamtwertung.
Für den nachfolgenden Kugelstoßwettbewerb bedeutete der Regen einen nassen und glitschigen Ring. Der Belag der Kugelstoßanlage scheint aber ein sehr guter gewesen zu sein, denn beide Athleten konnten beim Kugelstoßen überzeugen. Nico ballerte mit einer Weite von 14,54m angesichts der Rückenschmerzen alles aus dem Arm und war ganz zufrieden. Jannis ließ sich nach einem schlechten Einstand im ersten Versuch nicht aus der Ruhe bringen und stieß die 7,26 kg schwere Eisenkugel mit einem lauten Schrei selbstbewußt auf die neue Bestweite von 13,15m.
Der Hochsprung fand zum Glück wieder im Trockenen statt, sodass die Athleten keine Angst vor dem Wegrutschen beim letzten und entscheidenden Absprungschritt haben mussten. Die Sprungdiszplinen Hochsprung und Stabhochsprung haben quantitativ am meisten unter den Corona-Restriktionen gelitten, insofern fehlte die Sicherheit, die durch zahlreiche (Wettkampf-)Sprünge hervorgerufen wird. Nico haderte im Verlauf des Wettkampfes mit seinem Anlauf und konnte nicht zu seiner technischen Stabilität finden. Die übersprungenen 1,94m spiegeln deshalb nicht seine gute Form wieder. Jannis konnte hingegen mit der gleichen übersprungenen Leistung sehr zufrieden sein. Seine gescheiterten Versuche über die PB-bedeutende Höhe von 1,97m werden ihm in den kommenden Wettkämpfen (im nächsten Jahr :-)) helfen, diese Höhe selbstbewußt anzugehen.
Beim abschließenden 400-m-Lauf waren alle Beteiligten froh, dass es nicht so heiß war. Sowohl Jannis als auch Nico wussten sich in einer guten Form aufgrund der Trainingszeiten. Beide Athleten wollten sich entsprechend etwas zutrauen. Nico, dem besonders die Startphase große Schmerzen bereitete, suchte diese über ein hohes eingeschlagenes Tempo schnell zu überwinden. Einmal im Sprintmodus, sagte er sich, es gibt jetzt kein Zurück und ging die ersten 200m an wie die Feuerwehr. In seinem Sog wollte Jannis, der über ein hervorragendes Tempogefühl verfügt, ein bisschen "mitgehen". Beide Athleten wurden für ihren Mut mit sehr guten Zeiten belohnt. Nico stellte mit diesem Lauf seine persönliche Bestleitung auf die Hundertstelsekunde ein und lief das zweite Mal in seinem Leben eine 48iger-Zeit (48,85s). Jannis lief zur neuen Bestzeit und erstmalig unter 50 Sekunden (49,49s). Ein tolles Ende des ersten Tages, in dem Nico seine Führung ab dem Weitsprung nicht mehr abgegeben hatte. Mit einem Punkt Vorsprung vor Platz Drei konnte Jannis den zweiten Platz behaupten. Zwei Aachener ganz vorne in der Mehrkampfwertung... hat es das jemals gegeben?
Der Sonntag gestaltete sich wettertechnisch wieder etwas freundlicher...
Wie immer beim Zehnkampf gilt es am zweiten Tag mit dicken Beinen in den Hürdenwettkampf zu starten, frei nach dem Motto "nur die Harten kommen in den Garten". Nico musste zunächst einmal zum Physiotherapeuten, die Verletzung hatte sich in der Nacht noch einmal deutlich verschlimmert. Er musste sich zwangsläufig sehr auf sich konzentrieren und ihm gelang trotz oder gerade wegen seiner Schmerzen ein technisch ordentlicher Lauf. Jannis wusste um seine Stärken am zweiten Tag und hatte sich viel vorgenommen. Seine sehr saubere und präzise Technik auszuspielen, ist in Anbetracht der wenigen Läufe in der Vorbereitung und dem Willen zum Erfolg, nicht ganz einfach. Er blieb an einer Hürde verstärkt hängen und touchierte das ein oder andere Gerät leicht, so dass ein bißchen Zeit in Summe liegen blieb. Beide Mehrkämpfer waren dann aber doch zufrieden mit dem Ergebnis (Jannis 15,04s, Nico 15,06s).
Der Diskuswurf findet im Mehrkampf fast immer auf geeigneten Nebenplätzen statt. Das Fernsehen hatte gewaltige Anstrengungen unternommen, um besondere Bilder und Eindrücke übertragen zu können. Ähnlich wie im Kugelstoßen zeigte Jannis, dass er starke Nerven hat. Nach einem grottenschlechten Versuch im ersten Durchgang steigerte er im dritten Versuch seine persönliche Bestmarke auf tolle 41,05m und hielt sich in Bezug auf die Gesamtwertung alle Möglichkeiten offen. Bei Nico ging ab dieser Disziplin leider nichts mehr. An ein "Stemmen" beim Abwurf war nicht zu denken, seine Schmerzen konnte er nicht mehr ausblenden. Somit erreichte er eine für ihn unbefriedigende Weite von 39,10m.
Der Stabhochsprung gestaltete sich durch starke Windböen im Verlauf des Wettkampfes zunehmend schwieriger. Der mitgereiste Stabhochsprungexperte und -trainer Wolfram Szentiks konnte die Jungs trotzdem gut in Anlauf und Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten einstellen. Auch in dieser Disziplin fehlten einige Trainingseinheiten, so dass beide Athleten die Sprünge aus sehr kurzen Anläufen bestritten. Für Nico wäre auch nichts Anderes möglich gewesen, aufgrund seiner Verletzung. Bei dieser Disziplin zählt vor allem die Sicherheit der Sportler. Der Erfolg kann sich sehen lassen. Nico blieb im Ergebnis nur 10cm unter seiner PB und übersprang 4,10m. Jannis schaffte es sogar, seine Bestmarke, die bei 4,60m lag, zu überspringen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass Jannis den Gesamtsieg holen kann. Er ist ein exzellenter Speerwerfer und kann überdies eine schnelle Zeit über die 1500m laufen. Als der Speer im zweiten Durchgang bei 57,71m landet, strahlt Jannis in Anbetracht dieses Ergebnisses, ist äußerlich aber sehr ruhig. Nico beisst die Zähne zusammen und macht, was er kann. Das ist leider nicht mehr viel, er muss sich mit 43,80m zufrieden geben. Er kämpft nun für eine Medaille in der Männerwertung.
Beim abschließenden 1500m-Lauf wird es (leider) spannender als gewünscht. Nico weiss, dass er irgendwie ankommen muss, um sich die Bronzemedaille zu sichern. Jannis ist der sichere Sieger der U23-Wertung. Eigentlich alles paletti... Wäre da nicht der junge Malik Diakite´, der, in der Männerklasse startend, trotzdem jünger als Jannis ist. Jannis möchte Gesamtsieger werden... ganz klar! Seine Beine sind schwer und leer, sagt er noch vor dem Lauf. Trotzdem geht Jannis die ersten 800m an wie geplant, um in einer Zeit von ca. 4:30 min. zu finishen. Dann geht vorne die Post ab und Jannis kann nicht mithalten. Er muss abreißen lassen und die Lücke wird zunehmend größer. Irgendwann weiß man, dass es nun mit dem Rückstand eng werden könnte... alles zittert und bibbert als Jannis im Ziel ist. Es dauert einige bange Minuten bis das Gesamtklassement bekannt gegeben wird.
Sieger! Erster! Von allen! Geil!
... mit einer tollen Punktzahl, wie sie nur ganz selten bei Deutschen Mehrkampfmeisterschaften erreicht wurde. In einem Wettkampf, der im Vorfeld von so vielen Dingen gestört wurde, konnte sich Jannis trotzdem um 143 Punkte verbessern und mit vier persönlichen Bestleistungen aufwarten. Eine wirklich tolle Leistung, die auch deshalb möglich wurde, weil sein Freund und Trainingskamerad Nico an seiner Seite geblieben ist, ihn gepusht und begleitet hat und der aufgrund des gemeinsamen Erlebnisses selber immer wieder die Kraft gefunden hat, weiter zu machen und der am Schluß die Bronzemedaille in der Hand halten kann.
Ganz, ganz großes Kino, Jungs. Die Trainer sind stolz und glücklich, dabei sein zu dürfen. Das macht süchtig nach Fortsetzung... ;-)